Mittwoch, 15. Oktober 2008

Blues in the City

Ein Gespenst geht um im globalen Dorf: das Gespenst der Verstaatlichung. Genauer genommen: allein die Sozialisierung der Verluste, auf dem schnellsten und eiskalten Wege. Der „Wohlstand der Nationen“ gehört jedoch nach wie vor einer Handvoll Privaten, die fast unbekannt im Hintergrund agieren.

Die Beendigung des „realen Sozialismus“ wurde von Leuten wie Ed Yardeni als Sieg von Adam Smith über Karl Marx gefeiert, als die praktische Widerlegung des Sozialismus durch den ewig jungen Kapitalismus. Doch ist die Niederlage des einen Systems in der Systemkonkurrenz nicht gleichzusetzen mit der praktischen Bewährung eines anderen. Die Widerlegung des einen ist nicht gleichzeitig die Bestätigung des anderen Wirtschaftssystems. Fast könnte man der Organismusanalogie folgen: Jedes System hat seine Hochzeit, aber auch seine Grenzen. Das wird durch die Ereignisse der letzten Tage deutlich vor Augen geführt.

"Wenn der Fall der Berliner Mauer das Ende des Kommunismus bedeutete, dann bedeuten diese Septembertage das Ende des Marktfundamentalismus, des Glaubens, dass der Markt sich selbst reguliert, ohne den Staat auskommt."

"Brandstifter in Feuerwehruniform"
 


All diejenigen Mitbürger, die auf staatliche Unterstützung oder auf wohlwollende Kreditgewährung ihrer Hausbank angewiesen sind, können das mulmige Gefühl und die ganze Unsicherheit nachvollziehen, die derzeit vielleicht einige mit Milliardensummen jonglierenden Politiker und Bänker beschleichen könnte. Wer die klare Sich der Dinge sich nicht verstellen lässt, lebt ungern auf Grundlage ungedeckter Schecks auf die Zukunft, d.h. vom Geld anderer Leute, die selber dieses erst auch noch verdienen müssen.

Es ist dies demzufolge kein goldener Oktober für Bänker. Statt Bonussen regnet es Schmähreden. Allerorten wabern Arglohn und Misstrauen. Neben Verstaatlichung Entlassungen; in Luxemburg sind die isländischen Banken, die WestLB sowie die Sella Bank im Gespräch. Vom Bankenverband ABBL bis zur Gewerkschaft ALEBA wird Zweckoptimismus ausgestrahlt. Was als Dialektik der Aufklärung daherschreitet, ist in Wahrheit nichts anders, als dass am Arbeitsmarkt Kräfte gefragt sind, die intelligent genug sind, die notwendige Arbeit zu verrichten, aber dumm genug, dies zu den schlechterdings gebotenen Konditionen zu tun akzeptieren.

Märchenstunde

Vom Tischlein-deck-dich des schrankenlosen Konsums für alle, ohne Reue, mit vollem Auskosten aller Träume vom Sexleben, die nur bisweilen kontrastiert werden mit Diättipps und Ermahnungen zur Askese und Selbstkasteiung (besonders derjenigen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind), zum Esel-streck-dich der Werbung für Kapitalanlagen (das Geld vermehrt sich ja von selbst; Yardeni: der „Volkskapitalismus“ mache Klassenkampf und Sozialismus obsolet) zum Knüppel-aus-dem-Sack: Wer sich diesem so beschnittenen „Sozialstaat“ nicht einfügt, erfährt die volle Härte des Gesetzes, d.h. er lernt den Staat kennen mit seinem Monopol auf legitime Gewaltherrschaft.

So feiert etwa mit der Mainstream-Gleichschaltung der Internetforen für Grenzgänger im Sinne einer Kommerzialisierung die Luxemburger Vorliebe für das Genügen an einem bornierten Dasein auf einer Insel der Glückseligen fröhliche Urständ. Marx sprach mal von der „Idiotie des Landlebens“; ob er auch seinen Geburtsort Trier hierzu rechnete, ist nicht bekannt.

Die Spindoktoren sind derzeit noch hektisch damit beschäftigt, ihre Skripts umzuschreiben, jedoch wie stets gewohnt auf die alte Weise des „Elends des Globalismus“: eindimensionales Denken zwecks Verkündigung einer alternativenlosen Politik. Der Interventionismus werde durch die Not der Situation dem Staat nolens volens aufgezwungen. Retter wie Gerettete sind dies wider Willen, nicht selten wider bessere Einsicht. Eine schizoides Beziehungsverhältnis, aus dem heraus wenig Rationales zu erwarten ist. Merkwürdigerweise kommt im Globalismus und im neoliberalen Denken ein „Sachzwang“-Denken bzw. ein technologischer Determinismus zum Vorschein, der doch so gerne in der Vergangenheit gerade dem (Vulgär-) Marxismus zum Vorwurf gemacht wurde.

Wer die aktuellen Vorgänge auf dieser Folie interpretiert und zu analysieren versucht, läuft Gefahr, der Ideologie angeklagt zu werden. Doch mit Ideologie, Rassismus und Ethnozentrismus ist es wie mit Mundgeruch: Den eigenen Dunstkreis merkt man selber nicht, denn es fehlt einem ein objektiver Sensor.

Von Paul Krugman, Milton Friedman bis hin zu den „Staatsphilosophen“ Karl Popper bis und G.W.F. Hegel: Stets (auch bei solchen Autoren, die sich auf Max Webers Wertfreiheitspostulat berufen) gehen wissenschaftliche Theorien und Argumente einher zusammen mit einer persönlichen politischen Stellungnahme; nicht immer ist beides voneinander so leicht zu trennen. Geht es bei ersterem um wissenschaftliche Erkenntnis, so beim anderen um die kulturelle Hegemonie, die ideologische Lufthoheit, um von da aus Einfluss auszuüben auf die öffentliche Meinung und die Entscheider in Staat und Gesellschaft.

Die Politik predigt ihren Wählern aufs Neue eine noch größere Bescheidenheit. Wer ein schlechtes Gewissen hat, zeigt zumindest, dass er Gewissen hat. Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung bedeuten. Doch wollen wir uns nicht selbst Sand in die Augen streuen. Noch immer wird von der Regierenden Politik im Hinblick auf die Wahlbürger als bloße Kommunikation aufgefasst. Wenn der Wähler die von der Regierung getroffene Entscheidung ablehnt, so beweist er in deren Augen lediglich, dass er zu blöde oder zu faul sei.

Der Staat ist der Strohhalm, den die Banken ergriffen haben, um eine neue Vertrauensbasis zu finden. Welch verwegener Gedanke! Wie Island zeigt, kann leicht dem Bankrott der Banken der des Staates auf dem Fuße folgen. Einer "Finanzsoziologie", wie sie in der Weimarer Zeit Rudolf Goldscheid zu inaugurieren gesucht hatte, wurde bis vor Kurzem von neoliberalen Sittenwächtern auf der deutschen Wikipedia ein eigenes Stichwort verwehrt.

Von osterwinter
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